Von unserem Reporter Carsten Liebfried
Draußen auf dem Flur der Station Michael ist noch immer reichlich Verkehr. Geistesabwesend sitzt ein junges Mädchen auf einem Stuhl und starrt die gegenüberliegende Wand an. Eine ältere Frau im gelben Frotteebademantel schlurft ziellos umher. Jeden, der ihr auf dem Weg begegnet, fragt sie mit erhobenem rechtem Zeigefinger: „Wo ist der Ausgang?“ Währenddessen sitzt Sandra Borzyk in ihrem Büro am Schreibtisch und macht sich bereit für die Nachtschicht in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Marienhaus-Klinikum St. Antonius in Waldbreitbach.
Es ist freitags kurz vor 19.30 Uhr. Die Türen zum Ausgang der beiden Aufnahmestationen Martin und Michael werden in Kürze abgeschlossen. Nur das zuständige Personal verfügt über die Schlüsselgewalt. In den kommenden Stunden muss Borzyk alle acht Stationen des Klinikums im Auge behalten. Ihr Reich sind dabei vorwiegend die akuten Aufnahmestationen. „Am Wochenende kann es besonders anstrengend sein.“ In der Regel werden Patienten von ihren Hausärzten an die Klinik überwiesen, oder Richter erlassen eine mehrtägige oder mehrwöchige Verfügung. Aber an diesen zwei Tagen in der Woche ist in der Klinik lediglich eine Notbesetzung anwesend. Weniger Personal, aber nicht weniger Stress. „Nach seiner Einlieferung kann ich jemanden 24 Stunden gegen seinen Willen ausschließlich im psychiatrischen Notfall festhalten“, sagt Borzyk, als sie ihren Ärztekittel überstreift. Ab diesem Zeitpunkt bedarf es eines richterlichen Beschlusses.
Von Schizophrenie bis Depression
Eines wird bei einem Rundgang durch die Station deutlich: Gummizellen und Zwangsjacken sucht man vergeblich. Vor den Fenstern sind jedoch Gitterstäbe montiert. Die Vorsichtsmaßnahmen sind nicht ohne Grund. In den beiden Stationen auf der oberen Etage des Klinikums haben die Patienten in Extremsituationen ihr Zuhause. „Wir haben suizidale Patienten oder welche mit Schizophrenie, Neurosen, Depression, Persönlichkeitsstörungen aus jeder Altersklasse“, sagt Borzyk. „Im Landeskrankenhausplan von Rheinland-Pfalz haben wir den Auftrag zur psychiatrischen Regelversorgung der Stadt und des Kreises Neuwied“, sagt Borzyk. Demnach verpflichtet sich das Klinikum, alle Bürger im psychiatrischen Notfall aufzunehmen.
Und doch landen nicht nur die Menschen, die die Lust und den Sinn am Leben verloren haben im Klinikum. „Das Internet ist für uns ein Fluch“, sagt Borzyk. Vor allem Menschen, die in sozialen Netzwerken androhen, sich beispielsweise wegen Liebeskummer etwas anzutun, erschweren die tägliche Arbeit. Besorgte Eltern oder Verwandte verständigen umgehend die Polizei. Nicht selten sollen junge Erwachsene in die Obhut des Klinikums ohne ersichtlichen Grund. Für die Ärztin und das Personal bedeuten solche Zwischenfälle zusätzliche Büroarbeit. Jede Patientenaufnahme, Verlegung, Dosierung oder Vorfall muss haarklein dokumentiert werden.
Ständig in Bereitschaft
Als sie auf den Flur tritt, liegen schon jede Menge Akten auf ihrem Schreibtisch, die sie heute im Laufe ihrer Schicht noch bearbeiten muss. Die Frau im Bademantel läuft noch immer orientierungslos umher. Im Raucherzimmer der Station genießen zwei psychisch erkrankte Patienten ihre Zigaretten. Eine Frau mittleren Alters bewegt sich indes mit ihrem Rollator in Richtung Schwesternzimmer. Ab 21 Uhr herrscht auf den Stationen Nachtruhe. „Alle 15 bis 30 Minuten erfolgt eine Zimmerkontrolle“, sagt Sandra Borzyk. Um die Patienten zusätzlich zu beobachten, sind vier Zimmer mit einer Kamera ausgestattet. Auch die Stationsärztin verfügt über einen eigenen Schlafplatz. „Ich bringe immer mein eigenes Kissen von zu Hause mit“, verrät Borzyk lächelnd auf einem Rundgang durch die einzelnen Stationen des Klinikums.
Ihr Dienst- und das Stationstelefon hat sie stets dabei – für den Fall der Fälle. Höchstens vier Stunden liegt sie während ihrer 24-Stunden-Schicht auf dem Bett. Trotz des eigenen Kissens ist es eher ein unruhiger Schlaf. Ständig kreisen ihre Gedanken um die Patienten, wie sie sagt.
Patientin erleidet einen Anfall
Plötzlich klingelt ihr Stationstelefon. Nur wenige Worte werden gewechselt. In Windeseile macht sie sich auf den Rückweg zur Station Michael. Eine Mischung aus Heulkrampf und Hilfeschrei durchdringt die Ruhe. In einem Seitenarm eines Flurs kümmert sich Borzyk gemeinsam mit zwei Pflegern um eine junge Patientin. Behutsam redet die Ärztin auf sie ein. „Die Patientin leidet an akuter Schizophrenie“, erklärt die Ärztin nach der Behandlung. Sie sei ihr schon am Mittag aufgefallen, als sie Selbstgespräche führte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich ihre Erkrankung heute bemerkbar macht. „Sie hat in der Vergangenheit auch schon mal die Nahrungsaufnahme verweigert.“ Die verletzliche Seite ihrer Seele kennt die Ärztin aus früheren Vorfällen. „Die Patientin kann sehr impulsiv sein“, sagt sie, als sie den Vorfall detailliert im sogenannten Abklärungsuntersuchungsbogen dokumentiert. Gewissenhaft beschreibt sie die Symptome und notiert die Dosierung für die junge Frau. Später in der Schicht wird sie noch jeden einzelnen Vorfall aus der Nacht in ihren Computer diktieren. Doch bis dahin kann sich die Ärztin nur wenig entspannen.
Erneut klingelt das Stationstelefon. Ein Mädchen, das an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt ist, erleidet einen krampfartigen Anfall. Borzyk eilt zu deren Zimmer, um sich um sie zu kümmern. Mehrere Minuten vergehen, bis die Ärztin ihre Untersuchung beendet hat. „Es ist, als stünde das Mädchen plötzlich neben sich. Der Geist ist verschwunden, der Körper ist aber noch da. Mit drei Leuten mussten wir sie festhalten. Die Patientin schwitzt, hat Zuckungen, ist aber nicht ansprechbar“, beschreibt sie die Symptome. In jungen Jahren sei das Mädchen schwer missbraucht worden. Erst vor wenigen Wochen habe sie sich Schnittwunden an den Armen zugefügt. Auch nach Jahren brechen schlagartig alte seelische Wunden wieder auf.
„Es wird ständig über die Täter geredet, aber nie über die Opfer“, sagt Borzyk mit bitterem Unterton. Auch diesen Vorfall wird sie später in den Unterlagen vermerken. Inzwischen ist es ruhig geworden auf der Station Michael. Die erkrankte Seele ist zu Bett gegangen.