Kreis Neuwied - Die Gewalt in Partnerschaften und sexuelle Übergriffe gegenüber Frauen und Kindern haben im Kreis Neuwied zugenommen. Das stellt Heinz-Helmut Schwarzkopf vom Weißen Ring fest.
Der hiesige Außenstellenleiter der Hilfsorganisation kann diese Aussage mit Zahlen belegen: 2012 waren es 90 Fälle über das gesamte Jahr verteilt, in den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden schon 25 registriert.
Eine Begründung dafür kann Schwarzkopf nicht liefern. Jedoch betont er, dass diese Fälle nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf einen Anstieg der Gewalttaten zulassen. „Die Opfer wenden sich nun aber vermehrt an den Weißen Ring“, sagt er mit Blick auf die zunehmende Öffentlichkeitsarbeit der Organisation. Über eine mögliche Dunkelziffer möchte Schwarzkopf nicht spekulieren.
Häufig schämen sich die Opfer: Sie gehen nicht zur Polizei und erstatten keine Anzeige. Stattdessen versuchen sie aus Scham und Wut, ihr traumatisches Erlebnis auf eigene Faust zu verarbeiten oder zu verdrängen. Nicht selten brechen sie dann nach Jahren überraschend ihr Schweigen. „Ich kenne eine Frau, die hat erst 28 Jahre, nachdem sie von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde, den Mut aufgebracht, darüber mit jemandem zu sprechen.“
Nach dem Anruf folgt die erste persönliche Begegnung
Gewöhnlich erfolgt der erste Kontakt mit einem Mitarbeiter des Weißen Rings über das Telefon. Für die Opfer kostet der Anruf zumeist seelische Überwindung, sich einem Fremden zu offenbaren und von den schockierenden Erlebnissen zu berichten. „Am Anfang ist es wichtig, Vertrauen aufzubauen“, beschreibt Schwarzkopf seine sensible Vorgehensweise. Einige Anrufer seien regelrecht verschlossen. Nachdem der Fall telefonisch geschildert ist, kommt es zu einem ersten persönlichen Treffen. Den Ort bestimmt der Anrufer. „Das kann bei sich zu Hause in gewohnter Umgebung sein oder in einem Café“, sagt Schwarzkopf.
Der Kontakt mit den Opfern und die Konfrontation mit den Tätern vor Gericht haben seine Sicht auf die Menschen verändert: „Ich bin misstrauischer geworden.“ Seit sieben Jahren ist Heinz-Helmut Schwarzkopf beim Weißen Ring. Nunmehr fünf Jahre leitet er die Außenstelle mit Sitz in Urbach. Die traurigen Schicksale der Menschen gehen an ihm nicht spurlos vorüber. In therapeutische Hände hat sich der 70-Jährige schon einmal begeben. Feierabend oder gar geregelte Arbeitszeiten gibt es nicht wirklich. Öfters treffen sich die Außenstellenleiter aus der Region zum gemeinsamen Erfahrungsaustausch – eine Art von Eigentherapie.
Vater schießt mit einem Gewehr auf den Sohn
Doch eine Geschichte belastet ihn bis heute: Am 22. September 2007 schoss ein Familienvater seinem Sohn mit einer Schrotflinte ins Gesicht. Der damals 56-Jährige hatte ihm verboten, am heimischen Computer zu spielen. Als der Junge sich dem Willen widersetzte, griff der Vater zum Gewehr und drückte aus kürzester Entfernung ab. Der Junge überlebte schwer verletzt. Sein Vater litt zu diesem Zeitpunkt unter einem massiven Alkoholproblem. „Einen Liter Wodka täglich“, weiß Schwarzkopf. An jenem Nachmittag hatte der Mann, der damals keiner geregelten Tätigkeit nachging, laut Blutprobe einen Wert von 2,92 Promille. Das Landgericht Koblenz verurteilte ihn schließlich zu zwölf Jahren Haft. Heinz-Helmut Schwarzkopf vom Weißen Ring schickte die Familie erst einmal in den „Urlaub“, um die notwendige Distanz zum Geschehen zu ermöglichen.
Geradezu emotionslos erzählt er von dieser dramatischen Familiengeschichte. „Psychisch geht es dem Sohn ganz gut“, sagt Schwarzkopf. Direkten Kontakt habe er nicht mehr zu dem jungen Mann. Der Kontakt zu den Opfern breche häufig im Laufe der Zeit ab. Nur hin und wieder findet eine flüchtige E-Mail noch ihren Weg in sein Postfach. „Wir bieten Hilfe zur Selbsthilfe“, so der 70-Jährige. „Wir können nur den Weg aufzeigen.“
Auf Lebenszeit ist er mit seinem Ehrenamt aber nicht verheiratet. „Fünf Jahre mache ich vielleicht noch“, meint Schwarzkopf. Bis dahin sei noch genügend Zeit, um einen Nachfolger aufzubauen. Zehn ehrenamtliche Mitarbeiter zählt der Weiße Ring im Kreis Neuwied – fünf Männer und fünf Frauen. Darüber hinaus haben noch drei weitere Frauen ihr Interesse angemeldet, um für die Organisation tätig zu werden. „Früher waren wir beim Weißen Ring fast ausschließlich Männer. Nun sind wir beinahe eine Frauengesellschaft“, sagt Schwarzkopf mit einem Lächeln auf den Lippen.
Von unserem Reporter Carsten Liebfried